Herder-Expertise 11: Die Ukraine und wir
Am Ende muss nicht – alles gut werden
Es gibt ein altes Märchen, das fast jeder kennt, ohne zu wissen, woher es stammt. Es erzählt von Königen, die sich im hohen Alter noch einmal zusammensetzen, um die Welt neu aufzuteilen – so, wie sie sie in jungen Jahren gesehen haben. Sie legen Karten auf dem Boden, deren Farben verblasst sind, wollen die Welt neu aufteilen, zeichnen mit Stöcken Linien in die Erden und nennen es Grenzen, die längst verschwunden sind, reden von Ländern, die es so nie gab. Die Linien schneiden einander, der Grund erzittert und mit jedem Zug brechen Wurzeln. Die Erde sträubt sich, leckt ihre Wunden, schließt die Linien – nur die Stöcke bleiben übrig und die Hoffnung auf Heilung. So ungefähr könnte das Märchen ausklingen – ein Unbehagen bleibt übrig.
Dieses Bild einer neuen Aufteilung passt beunruhigend gut zu den geopolitischen Verschiebungen, die Konrad Schuller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschrieben hat.
In seinem Text „Willkommen in „Eurasia“ (FAZ, 26.10.2025) zeichnet Konrad Schuller nach, wie Elemente von George Orwells Albtraumordnung in seinem Roman „1984“ plötzlich wieder diskutiert werden: ein autoritäres Russland, das längst auf dem Weg zu einem „Eurasia“ sei; ein expansives China, das regionale Dominanz im fiktiven „Ostasia“ anstrebt; ein Amerika, das unter Donald Trump in Richtung Autoritarismus driftet und bereit scheint, in drei Einflusszonen zu denken — eine davon: Russland und Europa.
Konrad Schuller zeigt, wie Politstrategen auf beiden Seiten des Atlantiks offen über Großmachtarrangements zulasten Europas nachdenken, wie in Washington Stimmen lauter werden, die Europas liberale Ordnung für entbehrlich halten, und wie russische Ideologen offen die „Absorption“ Europas propagieren.
Er beschreibt eine Lage, in der Europa zwischen den Interessen dreier autoritärer Machtzentren geraten könnte. Und es stellt sich die Frage, die uns alle betrifft: Was bedeutet das für uns, für Europa, für eine Generation, die mit Freiheit selbstverständlich aufgewachsen ist?
Am 2. Dezember wird Konrad Schuller mit den Schüler:innen des Herder-Gymnasiums darüber sprechen, was diese geopolitische Verdichtung für die Ukraine, für Europa, für Deutschland und für unsere Zukunft bedeutet. Wir hoffen, dass er gemeinsam mit den Schüler:innen den Interessenkonflikt freilegt: Wer schützt wen? Wer entscheidet über wen? Wessen Werte stehen auf dem Spiel?
Aus der Perspektive der Schüler:innen stellen sich insbesondere die Fragen: Wer kann dieses Problem überhaupt lösen – wir, die jungen Menschen, oder jene, die noch an alten Karten festhalten? Wer trägt die Verantwortung – und wer will sie tragen?
Wir freuen uns auf den Besuch von Konrad Schuller.
Norbert Wartig (GFH)
Kurzbiografie Konrad Schuller
Konrad Schuller, geb. 1961 in Rumänien (Kronstadt/Brașov), kam als 15-Jähriger nach Deutschland. Er studierte Geschichte und Volkswirtschaft in München und wurde an der Deutschen Journalistenschule ausgebildet. Nach einem Aufenthalt beim BBC Worldservice kam er 1992 zur FAZ und wurde 1995 Berliner Korrespondent. 2004–2018 berichtete er als Korrespondent für Polen, die Ukraine und die baltischen Staaten, geprägt von Revolutionen, Systemumbrüchen und dem Krieg im Donbass. Seit 2018 arbeitet er im Berliner Büro der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.